Wer fragt nach mir?

Angehörige zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung

von Eva Straub

Und wer fragt nach mir? Wen interessiert es eigentlich, wie es mir geht? Wen kümmert es, ob ich Angst vor der dem Entlassungstermin unserer Tochter, des Sohnes, meines Partners, meiner Mutter, des Vaters aus dem Krankenhaus habe? Wohl jeder Angehörige eines psychisch kranken Menschen hat sich das oder ähnliches schon einmal gedacht.

Der dahinter stehende Vorwurf ist meistens berechtigt. Zumindest zeigt er aber auch, dass der so denkende Mensch in einer schwierigen Lebensphase steckt, sich vergessen und allein gelassen fühlt, „frustriert" ist. Dieser Mensch hat sich zu viel zugemutet, ist in Gefahr, sich zu überfordern, sich aufzuopfern bis an den Rand der Erschöpfung. Psychotherapeuten und Psychosomatiker haben dafür einen Begriff: Erschöpfungssyndrom. Grund dafür ist fast immer das aus der Balance geratene Verhältnis von Selbstbestimmung und Sich-verantwortlich-fühlen.

Viele Angehörige haben verlernt oder haben sich untersagt, an sich selbst zu denken. Sie haben sich selbst und ihre Gesundheit in den Hintergrund geschoben. Sie haben ihre Selbstsicherheit und ihr Selbstbewusstsein verloren und zur Selbstbestimmung fehlt ihnen der Mut. Mit einer bewussten Wahrnehmung der eigenen Befindlichkeit, mit der Akzeptanz der Rolle als Angehöriger eines psychisch kranken Menschen fängt die Krankheitsbewältigung des Angehörigen an.

Verantwortung für sich selber zu übernehmen, ist eine von mehreren Voraussetzungen, die oft langwierige Begleitung eines psychisch kranken Menschen durchzustehen.

Verantwortung für den Kranken zu übernehmen, hängt von der jeweiligen Notwendigkeit ab. Aber was heute notwendig ist, muss nicht für immer gelten. In einigen Wochen schon kann sich der Gesundheitszustand des Betroffenen so verändert haben, dass er wieder allein entscheiden und Verantwortung für sich selber übernehmen kann.

Diese Abgrenzung zwischen Verantwortungspflicht und Verantwortungsabgabe ist es, was den nahen Angehörigen im Zusammenleben mit psychisch kranken Familienangehörigen so schwer zu schaffen macht.

Geradezu zu einer Gratwanderung kann es werden, sich eine gewisse Unabhängigkeit in zeitlich begrenzten Krisenphasen zu erhalten und einen Teil seiner Selbstbestimmung zu bewahren.

 

VERANTWORTUNG
 

Innerhalb der Familie ist es ganz natürlich, dass sich einer für den anderen verantwortlich fühlt. So war es bisher immer. Das ist eines der Grundprinzipien für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Diese Selbstverständlichkeit im familiären Zusammenleben gilt, bis einer oder eine aus der Familie psychisch krank wurde. Von da ab ist es mit der Selbstverständlichkeit in bezug auf Verantwortungsübernahme nicht mehr so einfach. Sie löst immer wieder Diskussionen mit dem Kranken und unter den mitbetroffenen Familienmitgliedern aus.
 

Wie entscheidungsfähig ist der Kranke? Wie viel Selbstbestimmung kann er wahrnehmen? Wie viel Verantwortung müssen, ja, können wir, die nahen - vielleicht einzigen - Bezugspersonen übernehmen für denjenigen, der sie unserer Meinung nach am meisten braucht? Nicht selten sind die Angehörigen überrascht und verletzt, wenn sich der Betroffene durch ihre Fürsorge gegängelt fühlt!
 

Es liegt an den Besonderheiten psychischer Krankheiten, dass sich die nahen Bezugspersonen der Betroffenen in der ersten Zeit der Krankheit ganz selbstverständlich verantwortlich fühlen für alles, was um den Patienten herum geschieht und was zur Entscheidung ansteht. Mir ging es nicht anders. Wie kam ich damals dazu? Unser Sohn war noch sehr psychotisch, mir fehlte die Erfahrung und die heutige Gelassenheit, auch dem Kranken mal Fehler zugestehen zu können, und es fehlte mir das Vertrauen in seine verbliebenen Fähigkeiten. Vor allem aber fehlte es mir an Kenntnissen, am nötigen Einblick in die Zusammenhänge der Erkrankung.
 

Es hat Jahre gedauert, bis ich unser Zusammenleben in der Familie und die Sache mit der Verantwortung lockerer sehen konnte. Wie alle Angehörigen musste ich lernen, mich nicht immer einzumischen, nicht alles vorher regeln zu wollen und nicht ehrgeizig und mit vollem Einsatz - eigentlich mit mehr, als ich geben konnte - eine schnelle Besserung, vielleicht Heilung, herbeiführen zu wollen.
 

Es ist nicht leicht, ein „guter" Angehöriger zu sein
 

Zur unrechten Zeit und bei der falschen Gelegenheit bewirkt unsere wohlgemeinte Hilfe unter Umständen genau das Gegenteil von dem, was wir doch so gerne erreichen möchten - sie macht den Kranken nämlich unselbstständiger. Niemand muss sich schämen, wenn er diese wirklich schwierigen Unterscheidungen, die bei körperlich Kranken leicht zu treffen sind, nicht so bald hinkriegt. Bei einem körperlich Kranken ist das einfach, da übernehme ich die Verantwortung dafür, dass - beispielsweise - einem Blinden nichts im Wege steht, worüber er stolpern könnte. Es ist sehr, sehr viel schwieriger, zu erkennen, in wieweit ein psychisch kranker Mensch unserer Hilfe bedarf. Und immer wieder stellt sich den betreuenden Angehörigen die Frage, wie man erkennt: „Will er - oder sie -nicht oder kann er nicht?" Will er nicht, dann kann er selber Verantwortung übernehmen; kann er aber nicht, dann sollten die nahen Bezugspersonen ihm die Verantwortung für Entscheidungen abnehmen. Was ist aber, wenn der Betroffene nicht einsieht, dass er krank ist und Hilfe braucht? Wenn er oder sie dem Angehörigen das Recht abspricht, für ihn zu handeln, um Schaden abzuwenden?

Angehörige sind durch dieses Dilemma noch verunsicherter, als sie es sowieso schon sind durch die Veränderung des psychisch kranken Familienmitglieds. Der Gedanke quält sie: Hilfe wider Willen - ist das dann noch Hilfe?

Schmerzvoll wird so manchen Angehörigen bewusst, dass sie sich verausgaben, sich aufopfern, dass sie verzichten auf die Fortsetzung ihres gewohnten Lebensstils und dabei nur das Beste für den Betroffenen wollen und dennoch müssen sie erleben, der Betroffene weist ihre Hilfe schroff zurück, fühlt sich gedemütigt.

Ein „guter" Angehöriger zu sein, alles im Griff haben zu wollen, ist ein Anspruch, den Angehörige besser nicht haben sollten. Übertriebene Selbstverpflichtung setzt sie unter Druck, bringt sie an den Rand der nervlichen und psychischen Erschöpfung und lässt sie innerlich ausbrennen. Außerdem, wie ist er denn, der „gute" Angehörige?
 

Wir wissen, wie sich ein „guter" Angehöriger nicht verhält. Vom Verstand her wissen wir es. Die Umstände aber machen es vielen Angehörigen sehr schwer, ihre Emotionen und ihre Einstellungen so zu ändern, dass sie weder sich noch dem Betroffenen schaden. Wer nach Jahren der Erkrankung immer noch
 

  • das Verhalten des Erkrankten an dem von Gesunden - von gesunden Familienmitgliedern - misst,
     
  • wer glaubt, die Krankheitszeit einfach auslöschen zu können aus der Biografie des Betroffenen,
     
  • wer meint, der Betroffene könne den beruflichen Werdegang da wieder aufnehmen, wo er durch die Krankheit unterbrochen wurde,
     
  • wer meint, der Kranke würde nach seiner Genesung wieder so, wie er einst war,
     
  • und wer meint, er könne durch Druck und immer neue Rehabilitationsvorschläge die Heilung beschleunigen,
     

der hat nichts begriffen, er hat die Krankheit für sich nicht verarbeitet und hat die veränderte Lebenssituation nicht akzeptiert. Er hängt einem Idealbild nach. Konsequenterweise muss er immer wieder enttäuscht werden. Er wird von seinen vermeintlichen Misserfolgen bestimmt und fühlt sich verantwortlich dafür. Womöglich braucht er, um aus dieser, ihn krank machenden Phase wieder herauszukommen, die Hilfe anderer Angehöriger, derer, die dieses Stadium bereits hinter sich gelassen haben, um zu erfahren, dass der erste Schritt zu einem selbstbestimmten Leben im Annehmen liegt. Das ist kein passiver, resignierender Akt, sondern geschieht aufgrund einer bewussten Entscheidung: Ich nehme das Schicksal an, aber ich lasse mich nicht von ihm unterkriegen!
 

Meine Rolle als Angehöriger
 

Voraussetzung hierfür ist es, in sich zu gehen und sich Rechenschaft abzulegen über seine eigene Einstellung zur Krankheit. Welche Rolle will und kann ich dabei einnehmen? Was tut dem kranken Familiemitglied gut, - und was mir?

Überfürsorglichkeit, das haben wir in Theorie und Praxis gelernt, kann sich genauso ungünstig auf den Krankheitsverlauf des psychisch Kranken auswirken wie Vernachlässigen. Sinnbildlich gesprochen sollte ein Angehöriger nicht die Beine des Patienten sein zu wollen. Die Krücken ja, für eine bestimmte Zeit, solange sie der Betroffene braucht, die er aber wieder ablegen kann, wenn er zum „Selber-Gehen" im Stande ist, und die er wieder aufnehmen kann, wenn das selbständige Gehen schwerfällt. Was auf den ersten Blick nach Beliebigkeit aussieht, ist doch innere Stärke des Angehörigen und macht den bewusst Handelnden freier.
 

Verantwortung oder unterlassene Hilfeleistung
 

Verantwortung hat noch einen anderen Gegenpol: den der unterlassenen Hilfeleistung. Wohl jeder Angehörige war schon in der Situation, sich entscheiden zu müssen, dem Wunsch des Patienten nach Nichtbehandlung, seinen flehenden Blicken nachzugeben oder professionelle Hilfe gegen seinen Willen zu rufen. So oder so - später dann kamen die Zweifel an der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung. Wirklich wissen wir es so recht erst nach der Behandlung. Bei psychischen Krankheiten ist es nicht einfach, die zu erwartende Wirkung einer Maßnahme vorherzusehen. So bleibt den Angehörigen häufig nur, selbstbestimmt die Probe aufs Exempel zu machen mit ungewissem Ausgang -jedes Mal von Neuem: Versuch und Erfolg oder Versuch und Irrtum.
 

Die Frage nach unterlassener Hilfeleistung habe ich einmal in einem Interview für die bayerische Angehörigen-Landesverbandszeitung unbeirrbar Dr. Bäuml gestellt*. Er sagte dazu:

„Ich würde mir wünschen, dass jemand da ist, der Courage hat, mich in Behandlung zu bringen, notfalls auch gegen meinen Willen. Ich würde nicht wollen, dass man mich unter der Begründung, er will 's ja nicht anders, wachen- oder monatelang in einem psychisch sehr krankhaften Zustand einfach belässt. Das wäre mir eine grauenvolle Vorstellung... Heute weiß man, dass eine unbehandelt, schizophrene Psychose einen gewissen Raubbau an den gesunden Nervenzellen des Körpers bewirkt. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass jemand, der in einer akuten psychotischen Welt sich bewegt, viele soziale Kontakte gefährdet, dass er die Einbettung in den normalen Alltag gefährdet und dass er ungewollt zum Außenseiter wird." Und mit Blick auf seine Kollegen sagte er:

„Nur einfach ein kurzes Angebot zu machen und zu sagen, wenn Sie nicht wollen, ist das Ihre Sache, das finde ich, grenzt an unterlassene Hilfeleistung!"
 

*Dr. Josef Bäuml, Ltd. Oberarzt in der Psychiatrischen Klinik der TU München

Das ganze Interview ist nachzulesen in unbeirrbar Nr. l O/Mai 2005, erhältlich bei Landesverband Bayern ApK, Pappenheimstr. 7, 80335 München
 

Wissen macht selbstsicher
 

Es gibt nur einen Weg, die Gratwanderung des Angehörigen zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung sicherer zu machen und der führt über bessere Kenntnisse über die Erkrankung, über das Einholen von Informationen bei allen Beteiligten: bei Profis, in Trialog-Gesprächen mit Gleichbetroffenen und mit Psychiatrie-Erfahrenen und ganz besonders auch im Gespräch mit dem eigenen psychisch kranken Familienmitglied selbst.

An mündliche Sachinformationen der jeweils zuständigen Profis ist bedauerlicherweise schwer heranzukommen. Da drängt sich die Frage auf, wie es denn mit der Verantwortlichkeit der professionell Tätigen in dieser Hinsicht aussieht?

Brauchbaren Rat, wie wir mit Verantwortung und Selbstbestimmung umgehen, gibt es bei gleichbetroffenen Familien, in Angehörigengruppen und in Einzelgesprächen. Nur - Patentlösungen gibt es auch hier nicht!
 

Den Teufelskreis mit den Schuldgefühlen durchbrechen
 

Je mehr der Angehörige bei der Betreuung des psychisch Kranken Verantwortung übernimmt - übernehmen zu müssen meint — oder aus Selbstüberschätzung an sich zieht, umso weniger Selbstbestimmung bleibt ihm. Gefangen in den eigenen Ansprüchen und nicht selten in gesellschaftlichen Konventionen, kümmert er sich schließlich um alles, verliert das Gefühl für sich selbst und seine Belastungsgrenzen. Es gehört eine gehörige Portion Selbstbewusstsein dazu, zu seinen Bedürfnissen zu stehen, ohne Schuldgefühle zu entwickeln. Schuldgefühle führen zu Wiedergutmachungsbemühungen der Angehörigen bis zur Selbstaufgabe. Dadurch wird nichts besser, sondern alles nur noch verkrampfter und unfreier im gemeinsamen Zusammenleben mit psychischKranken. Eine Besserung des Gesundheitszustandes des Patienten kann so nicht entstehen. Wegen dieser Erfolglosigkeit erhalten sich die Schuldvorwürfe ständig selber, und irgendwann besteht unser ganzes Leben aus Verantwortungsgefühl. Wir verlieren uns selbst. Selbstlosigkeit, in der wir uns für den Kranken aufopfern, lässt unser Selbst verschwinden, macht uns für den Kranken bedeutungslos. Wir können ihm kein Halt mehr sein.

Schuld hat gemeinhin in der Psychiatrie wenig zu suchen, auch wenn sie in enger Beziehung zu Verantwortung steht. Wie steht es mit der Verantwortung des Gesetzgebers für eine für alle gleiche Gesundheitsversorgung, wie mit der des Staates für bedarfsgerechte und unterschiedslos allen zugute kommende, erschwingliche Leistungen aus? Der Staat hat eine Fürsorgepflicht für Kranke und Behinderte. In dieser Fürsorgepflicht stehen auch Kommunen und Landkreise. Leid und Not zu lindern, Familien zu schützen und behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen - diese Normen sind in unserer Verfassung, den Gesetzen und im Bewusstsein der Gesellschaft verankert. Dieser Schutz gilt auch für Familien mit psychisch kranken und behinderten Menschen.
 

Und wer fragt nach uns, den betroffenen Familien?
 

Die Rolle der Angehörigen in der Psychiatrie hat sich gewandelt, trotz einer erheblichen Therapieverbesserung, bei der Behandlung von Schizophrenien zum Beispiel, gelingt es vielen Patienten nicht, wieder ein selbständiges Leben zu führen. Mehr als die Hälfte aller psychisch Kranken leben in der Familie. Und trotz moderner Medikamente und sozialpsychiatrischer Betreuung muss immer wieder mit Rückfallen gerechnet werden.

Es käme noch viel häufiger zu Rückfallen, würden die Familien nicht stützend, ermutigend und zur Behandlung motivierend mithelfen. Angehörige wollen und können bei der Krankheitsbewältigung mithelfen, sie wollen das freiwillig tun. Sie wollen aber nicht das Gefühl haben müssen, ungefragt verplant zu werden. Selbst entscheiden wollen sie, was das Maß ihrer Unterstützung anbetrifft, und mitentscheiden, was in der Nachsorge ihres psychisch Kranken geplant wird. Wenn Sie heute als „Co-Therapeuten" bezeichnet werden, bedeutet das soviel wie, sie werden als Mitverantwortliche für die Einhaltung der Behandlungsbereitschaft und des Therapieplans gesehen. Unmerklich und ungefragt und oft unberaten werden sie zu Hilfstherapeuten ohne „Kündigungsrecht". Freilich, um die Rolle „Co-Therapeut" hätten uns unsere Vorvorfahren beneidet, galten sie doch eher als „Störenfriede" bei der Behandlung ihrer Patienten. Aber diese Rolle überfordert die betroffenen Familien in ihren Möglichkeiten, zumal sie kaum auf Unterstützungsangebote zurückgreifen können.
 

Miteinbeziehung der Angehörigen
 

Angehörige sind ein wichtiges Glied in der psychiatrischen Versorgungskette, unverzichtbar zum Beispiel bei der Nachsorge nach stationärer Behandlung. Sie erwarten dafür aber eine gewisse Mitsprache bei Entscheidungen. Sie erwarten Rücksichtnahme auf ihre, den Lebensumständen entsprechenden Unterstützungsmöglichkeiten. Am Beispiel der Entlassungspraxis aus dem psychiatrischen Krankenhaus möchte ich das erklären.

Jeder Ortswechsel, jeder Wechsel der Bezugspersonen macht psychisch kranken Menschen zu schaffen. Es ist ein kritischer Moment. Die Entlassung aus der Klinik ist solch ein belastendes Ereignis - und das nicht nur für die Betroffenen sondern auch für ihre Angehörigen. Soll dieser Schritt gut gelingen, bedarf es der Miteinbeziehung der Angehörigen in die Entlassungsvorbereitungen.

In der Praxis hieße das zum Beispiel, die Familien vor der Entlassung ihrer psychisch kranken Familienmitglieder aus stationärer Behandlung zu fragen, ob sie sich praktisch, räumlich, psychisch in der Lage fühlen, die weitere Betreuung ihrer Kranken zu übernehmen, ob sie darauf vorbereitet sind. Gemeinsam - „trialogisch" - die Entlassung vorzubereiten, das hieße, die Angehörigen und die Patienten ernst zu nehmen und ihnen beiden die Selbstbestimmung - in Form der Mitbestimmung - zu lassen. Unbestritten gibt es eine Kommunikationslücke zwischen Krankenhaus und Familie, aber auch - und diese Kluft ist vielleicht noch größer zwischen niedergelassenen Psychiatern und Angehörigen! „Krankenhaus - Angehörige" ist eine „Schnittstelle", die bei weitem tiefer geht und dramatischere Folgen hat, als es bei „Schnittstellen" zwischen professionellen Einrichtungen der Fall ist. Die Beseitigung dieser Kluft ist ein „Muss"! Das ist eine notwendige Konsequenz aus der Psychiatrie-Reform und ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Fortsetzung einer schwerpunktmäßig im ambulanten Bereich liegenden psychiatrischen Versorgung.

Patienten nach längerem stationären Aufenthalt in die unvorbereitete Familie zu entlassen ist ein Kunstfehler!
 

Angehörige, die unverzichtbaren Partner
 

Die Mit- und Selbstbestimmung der Familien eines behinderten Menschen zu achten, ist nicht nur eine moralische Pflicht, es ist vor allem vernünftig! Es erhält die Gesundheit der betroffenen Familien und ihre Leistungsfähigkeit, und damit ist es eine volkswirtschaftlich vernünftige Maßnahme. „Jeder will gefragt werden, selbst dann, wenn er eigentlich keine Möglichkeit hat, nein zu sagen!"

Psychische Krankheiten sind, volkswirtschaftlich gesehen, teuere Krankheiten. Nicht die direkten Kosten (Arzthonorare, Medikamente usw.) verursachen den Löwenanteil. Es sind die indirekten Kosten, wozu diejenigen durch Arbeitsausfall, durch Frühverrentung, durch beschützte Wohnplätze, Tagesstrukturmaßnahmen usw. zählen, die zwei Drittel der Gesamtkosten ausmachen. Angehörige übernehmen gerade hierbei Leistungen, die, aus welchem Grund auch immer, von anderen nicht erbracht werden können oder nicht erbracht werden wollen. Es ergäbe sich eine milliardenschwere Mehrbelastung für das Gesundheits- und Sozialwesen, wenn allein die Familien, die in die Entlassungsplanung ihres kranken Familienmitglieds aus der psychiatrischen Klinik nicht miteinbezogen wurden, sich weigern würden, den Patienten nach der Krankenhausbehandlung wieder zu Hause aufzunehmen! In Anbetracht allein dieser wirtschaftlichen Bedeutung können Angehörige sehr selbstbewusst auftreten und selbstbewusst ihren Unterstützungsbedarf benennen.
 

Weil die öffentlichen Mittel nicht ausreichen, bleibt den betroffenen Familien meistens nichts anderes übrig, als in die Bresche zu springen und sich um die tägliche Krankheitsbewältigung zu kümmern, für Behandlungskontinuität Sorge zu tragen, einen beschützten Wohnraum zu stellen und vieles mehr. Sie tun es dem Kranken zuliebe, oftmals bis an die Grenzen ihrer Kräfte und darüber hinaus.

Sie sind dennoch nicht die natürlichen Lückenbüßer für unzureichende, nicht bedarfsgerechte, nicht funktionierende Versorgungsstrukturen. Daher die Frage an die Politik und die Planer der psychiatrischen Versorgung; Wer fragt nach der Belastbarkeit der Familien? Was passiert mit den Familien, wenn immer mehr Versorgungsaufgaben auf sie abgewälzt werden?

Bewusstsein hierfür zu schaffen und die Interessen der Angehörigen psychisch kranker Menschen zu vertreten sind Aufgaben der organisierten Angehörigen-Selbsthilfe auf Landes- und Bundesebene. Sie weisen auf Lücken in der Versorgung, auf Fehlplanungen und auf in der praktischen Umsetzung stecken gebliebene Gesetze hin. Sie fordern eine nicht nur patientengerechte, sondern auch eine familiengerechte Versorgungslandschaft und Gesellschaftsordnung!
 

Selbstbestimmung
 

Nur bedingt ist Selbstbestimmung ein Wert an sich und praktisch nie kann man Selbstbestimmung in Gegensatz stellen zu Verantwortung. Niemand kann völlig selbstbestimmt leben. Immer gibt es Umstände, die einen zu Handlungen - zu Haltungen - zwingen, es gibt Lebensumstände, die der einzelne Mensch nicht in der Hand hat, wie bei Krankheit z.B., über die er also nicht selbst bestimmen kann.
 

Freiheit des Handelns
 

Das Gefühl, selbstbestimmt zu leben, hängt wohl vom Verhältnis von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung ab. Wenn ich zu 90 Prozent von Umständen, seien es von außen auf mich einwirkende oder solche, die mir mein Körper vorgibt, gesteuert werde, fühle ich mich unfrei. Es bleibt einem anscheinend nur eine sehr kleine Handlungsfreiheit. Freiheit des Handelns? Das ist nicht nur ein Thema der Philosophie, sondern eines, mit dem sich die Neurologie zunehmend beschäftigt. Es hat die Menschheit immer beschäftigt!

Mit der modernen Technik der „bildgebenden Verfahren" können Forscher dem Gehirn bei der Arbeit zuschauen. Und nun sind sie gar nicht mehr so sicher, ob die freie Entscheidungsfähigkeit eines Menschen nicht eine Illusion ist. Bereits bevor wir den Arm heben wollen, so haben sie herausgefunden, vollzieht das Gehirn die dafür notwendigen Schaltungen.

Kurze Zeiten der Unfreiheit, in denen wir nicht selbst bestimmen oder wenigstens mitbestimmen können, ertragen wir im allgemeinen recht gut. Ja, wir fühlen uns sogar besonders tüchtig, als „Helden", die viel aushalten können. Bedingung dafür ist ein Licht am Ende des Tunnels. Und ganz wesentlich ist, das Unvermeidliche selbstbestimmend annehmen zu können.

Angehörige psychisch kranker Menschen leiden nicht nur unter den krankheitsbedingten Alltagsbelastungen allein. Sie sehen sich verunsichernden Gesamtsituationen gegenüber, fühlen sich ausgeliefert, reagieren auf Symptome, ohne sie beeinflussen zu können. Sie haben oft den Mut verloren, selbstbestimmt und im Vertrauen auf ihre Fähigkeiten zu handeln.
 

MUSS das so sein? Müssen sich die Bezugspersonen wie Schachfiguren bei einem Schachspiel, dessen Regeln sie nicht verstehen und dessen Ausgang sie nicht kennen, fühlen? Mit diesem ihrem Schicksal können die Schachfiguren hadern und langsam depressiv werden, das ändert nichts an ihrer Situation! Aber sie können ihre Rolle auch annehmen und im Vertrauen auf sich selbst und den Schachspieler mitspielen. Hadern, Revoltieren nützt nichts - schadet nur allen Beteiligten! Wenn der Angehörige die Krankheit des betroffenen Familienmitglieds als solche akzeptiert hat, d.h. wenn er krankheitseinsichtig geworden ist und einiges weiß über die Krankheit - das wenigstens kann er selbst bestimmen - hat er sehr wohl die Möglichkeit zu entscheiden, in wieweit er sein Leben von den Symptomen seines psychisch kranken Angehörigen beeinflussen lassen will.
 

Zu den eigenen Bedürfnissen stehen
 

Denn es steht außer Zweifel, wir tragen auch Verantwortung für uns selbst. Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner, Gütersloh, drückt das deutlich aus: „ Tun Sie nur so viel, wie Sie meinen, dass es in erster Linie für Sie gut ist und erst dann für den Kranken".

Diesen Rat in den Alltag umzusetzen erscheint vielen Angehörigen unmöglich. Wie soll das gehen? Nicht von heute auf morgen gelingt es Angehörigen, zu den eigenen Bedürfhissen zu stehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Es fällt schwer, sich als Helfer zur Verfügung zu stellen, sich aber nicht vereinnahmen zu lassen. Und es bedarf einiger Erfahrung, fürwahr, sich als Bezugperson zu fühlen und doch die Verantwortung auf mehrere Schultern zu verteilen. Letzteres ist einen Versuch wert. Fast immer finden sich Mithelfer, auch dort, wo man sie gar nicht vermutet hätte.
 

Es ist nicht Neues: Unser psychisch krankes Familienmitglied braucht ein stabiles Umfeld, um sich selber wieder stabilisieren zu können. Nervlich überlastete, ausgelaugte Angehörige nützen ihm wenig. Im Gegenteil, sie verursachen Stress und können ihm damit schaden. Aber nicht nur das. Wenn der so sensible Betroffene das Gefühl hat, er und seine Krankheit seien Schuld, dass der Angehörige seine Freizeitgestaltung und Hobbys aufgegeben hat, er verursache die gesundheitlichen Probleme seiner Angehörigen, belastet ihn das. Auch ein psychisch kranker Mensch hat lieber einen ausgeglichenen, in sich ruhenden, entspannten und mal lächelnden Menschen in seiner Nähe. Gelassener auch in schwierigen Situationen bleibt ein Angehöriger, der seine Kraftreserven einzuteilen versteht und weiß, wie und wo er sie wieder auffüllen kann. Ihm gelingt es, hier und da innerlich zurückzutreten und aus selbstgewählter Distanz zu entscheiden, muss ich mich denn hier wirklich einmischen, muss ich Verantwortung übernehmen, oder ist es nicht vielleicht klüger abzuwarten, dem Betroffenen eine Chance zu geben, seinen Mut und seine Belastbarkeit in bezug auf Verantwortungsübernahme zu testen und zu trainieren?
 

Alles in Allem
 

Wer selbstbestimmt leben will, muss das auch anderen zugestehen, d.h. meine Selbstbestimmung hat da ihre Grenzen, wo sie die der anderen berührt oder gar einschränkt. - Das gilt auch für die Selbstbestimmungsforderungen psychisch kranker Menschen, wenn sie wollen, dass man sie ernst nimmt.

Selbstbestimmung findet auch ihre Grenzen, durch innere und äußere, momentan unveränderbare Umstände. Verantwortung und Selbstbestimmung sollen keine Gegensätze sein, sondern bedingen und ergänzen sich gegenseitig.
 

Folgende Voraussetzungen gehören dazu:
 

  • Informiert sein über Krankheitszusammenhänge
     
  • sich um eine objektive Sichtweise auf das eigene Schicksal und die wirklichen Belastungen bemühen
     
  • sich frei machen von allzu hohen Erwartungen
     
  • sich keine zu ehrgeizigen Ziele stecken
     
  • sich selbstbewusst Partner suchen zur Bewältigung der täglichen Belastungen und bei der Entscheidungsfindung.
     

Selbstbestimmt als Angehöriger eines psychisch kranken Menschen leben heißt, sich nicht von eigenen, anerzogenen bürgerlichen mitunter „spießigen" Wertvorstellungen und Vorstellungen in Bezug auf ein erstrebenswertes Leben für den Betroffenen abhängig zu machen: Nicht Sauberkeit, nicht Wohlstand, nicht ein nach Haaröl duftender Typ im schnieken Anzug sollten unser anzustrebendes Ziel sein, vielmehr die Zufriedenheit des Betroffenen mit dem Nischenplatz, in dem er sich eingerichtet hat. Nicht die zugemüllte Wohnung ist eine Katastrophe, sondern die Verzweiflung des Menschen, sein „Reich", seine „Heimat" zu verlieren, wenn Angehörige unbedingt aufräumen oder ihn da rausholen wollen. Nicht wir müssen sein Leben meistern, sondern er!
 

Mit sich selber ins Reine kommen
 

Was für Konsequenzen können wir daraus ziehen?
 

  • Ehrlich Abschied nehmen vom Idealbild des Kranken!
     
  • Akzeptieren lernen! Das spart Kräfte, ermöglicht größtmögliche Gelassenheit und erhält uns unsere Gesundheit!
     
  • Nicht hadern, nicht wegleugnen, nicht resignieren und nicht an Wunder glauben - die Enttäuschung könnte nahestehende Bezugspersonen umwerfen.
     
  • Dem Eindruck, überrollt zu werden von den Auswirkungen der Krankheit, können Angehörige mit dem Willen und dem Mut zur Selbsthilfe begegnen. Auch das ist ein Weg, sich die Selbstbestimmung zu erhalten.
     
  • Jammern über vertane Chancen und nicht mehr zu realisierende Zukunftsvisionen hilft nicht weiter. Es ändert nichts, macht nur das Herz schwer. Auch der Erkrankte leidet unter der veränderten Perspektive, und so manche abrupte Reaktion seinerseits kommt: „Du könntest eigentlich, aber du wirst es nie können!"
     
  • Es kommt auf die jeweilige Situation und den Krankheitsverlauf an, aber im allgemeinen bekommt es den Angehörigen und dem Betroffenen gut, ihm mehr Verantwortung zu überlassen, wenn er sie will. Zeigen Sie ihm Vertrauen. Auch der psychisch kranke Rekonvaleszent hat ein Recht auf eigene Erfahrungen und ein Recht, daraus zu lernen.
     
  • Die Kräfte der Angehörigen sind nicht unerschöpflich. Um gesund zu bleiben, müssen sie erkennen, wo ihre Kraftressourcen liegen. Mal abschalten, wieder mal Wandern gehen, Musik hören, ein gutes Essen genießen, wieder lernen: das alles gehört auch zum Leben!
     

So muss es nicht kommen
 

Unbemerkt und ungewollt schlittern betreuende Angehörige in eine Lage, die Ihnen persönlich schwer zu schaffen machen kann. Sie werden unfrei, sie haben keinen anderen Lebensinhalt mehr als die Pflege ihres psychisch kranken Familienmitglieds, sie brauchen die Kranken schließlich zur Selbstidentifizierung, gönnen sich keine Verschnaufpause, keinen Tapetenwechsel mehr, sie leben mit den Krankheitsphasen. So muss es nicht kommen!
 

Hellhörig sollte jeder werden, wenn er seine Familiensituation mit „Wenn es meinem psychisch Kranken gut geht, geht es mir gut!" beschreibt. Das ist ein gefährlicher Ausspruch! Er bedeutet, dass dieser Angehörige sein ganzes Sein und seinen Lebensinhalt vom Wohlergehen des psychisch kranken Menschen abhängig macht. Das geht mal, aber nicht bei der Begleitung eines chronisch, über lange Zeit erkrankten Menschen. Umformuliert in: „ Nur wenn es mir gut geht, kann ich dafür sorgen, dass es unserem psychisch Kranken gut geht!", befreien sich Angehörige von zu viel selbst auferlegter Verantwortung. Die Botschaft ist: Pass' auf Deine Gesundheit auf- in Deinem Interesse und dem Deines Kranken.
 

Selbstbewusst die Rolle als Angehörige eines psychisch kranken Menschen annehmen und zu ihr stehen, die Wertvorstellungen ändern und sich lösen von der Meinung anderer - Psychiatrie-Unerfahrener oder Noch-Unerfahrener. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Angehörige sich nicht ausgeliefert fühlen, dass sie agieren können und nicht nur reagieren müssen. Und wenn dann Stolpersteine -ja dicke Brocken - im Weg liegen, haben sie die Kraft und den Mut, selbstbestimmt - nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Informationsquellen -, zu entscheiden: sie wegzuräumen, sie zu übersteigen, oder sie links liegen zu lassen. So entsteht in Angehörigen das Gefühl freiwillig, wohlüberlegt Verantwortung übernommen zu haben, einen Teil Selbstbestimmung erhalten zu haben. Zu solcher „Angehörigenweisheit" zu kommen ist ein langer Weg. An alledem können wir arbeiten, an uns arbeiten! Und es lohnt sich auch wegen der eigenen Zufriedenheit und Gesunderhaltung.

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